Thomas Hillar ist mehr als 15 Jahren als Managementberater für die Versicherungswirtschaft und verantwortet seit August 2016 bei Capgemini Invent den Bereich Insurance in DACH. Gleichzeitig ist er Co-Lead der Global Insurance Domain. In seiner Beraterkarriere hat er strategische Projekte für nationale und internationale Lebensversicherer, Kompositversicherer und Industrieversicherer geleitet. Als Experte für Operations, Schaden und Assistance liegen die aktuellen Beratungsschwerpunkte in den Themen „Digital Business Model Transformation“, „Intelligent Insurer“ und „Innovation Culture & Change“. Neben seiner Beratertätigkeit hält er regelmäßig an den Universitäten Augsburg und Jena Seminare zum Thema „Digitale Geschäftsmodelle“ und ist im Namen von Capgemini Invent Sponsor für die InsureTechWerft Hamburg.
Herr Hillar, stellen Sie sich doch bitte kurz selbst vor.
Ich bin seit über 15 Jahren Berater für die Versicherungswirtschaft. Ich beschäftige mich beruflich aber auch weil es mich persönlich interessiert mit den Fragen: wo bewegt sich die Branche hin, was sind die aktuellen Themen, Herausforderungen und Trends? Ein wichtiges Thema dabei ist die Customer Experience oder die Frage, wie sich Kundenbindung, Kundenzufriedenheit und Kundenloyalität steigern und damit in Wachstum übersetzen lässt?
Warum muss man eigentlich zwischen Kundentreue und Kundenloyalität unterscheiden?
Warum Kundentreue und Kundenloyalität nicht das Gleiche sind ? Da fange ich mal mit Kundenbindung an – man könnte sagen: wenn mich ein Kunde nicht verlässt, habe ich es geschafft, meinen Kunden zu binden. In der Versicherungswirtschaft wird dies oft schon als ausreichend hingenommen – aber damit ist der Kunde natürlich noch lange kein wirklich treuer und schon gar kein loyaler Kunde. Warum nicht? Weil wir den Status gar nicht kennen – wir gehen von einer Art rationalen Zufriedenheit mit den üblichen Leistungen aus, aber aus üblichen Leistungen entsteht natürlich noch keine Loyalität.
„Loyalität kommt aus einer emotionalen Zufriedenheit.“
Dafür muss ein Unternehmen seine Kunden positiv überraschen, vielleicht sogar glücklich oder dankbar machen – erst dann entsteht diese Portion Emotionalität, die ich brauche, um Kundenbindung in Kundenloyalität zu verwandeln.
Warum ist das in einer Dienstleistungsbranche so schwierig?
Was haben wir mit einem Versicherungsprodukt eigentlich für eine Leistung? Der fundamentale Unterschied zum Beispiel zum Smartphone liegt auf der Hand: ich kaufe mir eins, leg Geld auf den Tisch und dann habe ich‘s. Und in meinem Fall schätzt sich der Hersteller aus Cupertino glücklich, wenn ich das nächste „one more thing“ in zwei Jahren wieder dort kaufe. Aber bei einer Versicherung ist es etwas anderes: da leg ich das Geld auf den Tisch, schließe eine Versicherung ab und dann krieg ich vermeintlich erstmal nichts. Weil die Versicherung ein Risiko übernimmt, kauft sich der Kunde Sicherheit, also eine immaterielle Leistung. Physisch erhält der Kunde eine Police – per Post oder als PDF. Ob sich die Versicherung auch materiell lohnt, erfährt der Kunde erst, wenn sie leisten muss. Das kommt ja später und wenn nichts passiert, erfahre ich diesen materiellen Ausgleich nie. Vor diesem Hintergrund ist Kundenloyalität fundamental anders als etwa bei einem Konsumgüterhersteller zu verstehen. Das ist eine Besonderheit der Versicherungsbranche.
„Was gibt es Emotionaleres als Sicherheit?“
Versicherungen meinen ja gern, sie hätten unsexy Produkte. Was für ein Quatsch! Was kann man denn Menschen Emotionaleres als Sicherheit verkaufen? Die Versicherungswirtschaft hat dies aber über die Jahrhunderte nicht gelernt, weil sie eigentlich froh waren, wenn sie vom Kunden, der mal ein Produkt gekauft hat, nie wieder etwas gesehen oder gehört haben. Das ändert sich gerade, weil man feststellt, dass Kundenzufriedenheit und Treue nur über Emotionalität entstehen. Und die braucht den regelmäßigen Austausch und das erfordert einen anderen Umgang mit Kunden. So sollte man zwischen dem Kauf und einer eventuellen Leistung mit den Kunden in Kontakt bleiben und ihn dabei auch auf einer emotionalen, persönlichen Ebene abholen.
Welchen Einfluss nimmt die Digitalisierung der Kommunikation auf die Loyalität?
Die Versicherungsbranche muss noch lernen mit ihren Kunden im digitalen Zeitalter ins Gespräch zu kommen. Der klassische Versicherungsmakler hat sich persönlich um seine Schäfchen gekümmert. Im Ort, in der Gemeinde, engagiert im Sportverein – da war die menschliche Nähe gegeben. Aber jetzt wandern die Communities in die digitale Welt. Und auch da sollte es jemanden geben, der sich um seine Schäflein kümmert. Ich sehe für die Versicherungen hier zudem eine Chance mit Menschen in Kontakt treten kann, die sie früher gar nicht erreicht hätten. Es gibt ein Best Practice-Beispiel aus den USA, einen Schadenversicherer. Die haben sich zum Ziel gesetzt, im Schadenfall 75% sofort zu regulieren und dass ohne eine persönliche Interaktion im wichtigsten „Moment of Truth“. Das ist die Art von Digitalisierung, die über Social Media-Geplaudere und ungelesene E-Mail–Newsletter hinausgeht und wirklich Sinn ergibt. Natürlich konnte man schon lange eine Versicherung digital abschließen, aber was passiert denn eigentlich, wenn es einen Schaden gibt? Dann fehlte dem Kunden das Passwort oder die App braucht erst mal ein Update – das war alles unbefriedigend. Letztendlich hat das US-Unternehmen verstanden, dass es eine Art Community braucht. Die Kundschaft dieses amerikanischen Versicherers ist viel im militärischen Hintergrund zu finden und dann haben sie dort eine Special Interest Community gebildet, die mit Versicherung erstmal gar nichts zu tun hat. Über diesen Weg haben sie ihre Kunden sozusagen angelernt, sich digital mit ihnen auszutauschen und zu unterhalten, was überhaupt nichts mit Leistungsfähigkeit einer App oder sonstiger digitaler Gadgets zu tun hatte. Aber so bindet man Kunden auch in einer digitalen Welt mit emotionalen Prinzipien.
Ist diese Digitalisierung primär eine Sache der jüngeren Zielgruppen?
Nein, bis vor einigen Jahren hätten wir noch gesagt ja, und das war auch so, da waren tatsächlich die digitalaffinen Jüngeren. Heute unterscheiden wir zwischen den technologisch Interessierten und den weniger technikaffinen. Das hat mit der Generation eigentlich fast gar nichts mehr zu tun.
Und um mal wieder den Link zum Thema Kundenloyalität zu finden:
„Ein gut funktionierender digitaler Prozess ist heute Commodity.“
Der schafft weder Kundentreue noch Kundenloyalität, der wird schlicht als Selbstverständlichkeit erwartet. Vielen in der Branche fällt es noch schwer, wenn sie ihre KPIs managen und feststellen: „Ja, wieso, was will denn der Kunde? Ich hab mich nach 2 Tagen gemeldet. Ich hab nach 3 Tagen bezahlt. Er hatte alles transparent. Wieso findet er denn mich jetzt nicht toll?“ Weil das etwas Emotionales ist! Das Zwischenmenschliche z.B. zwischen Makler und Kunde von früher muss heute ins Digitale transferiert werden. Es reicht nicht nur, einen Prozess oder eine Dienstleistung sauber digital anzubieten. Sie müssen überraschen oder sogar ein emotionales Momentum erzeugen. Schauen wir uns einmal ein Beispiel an: Krankenversicherer nennen und verstehen sich heute als Gesundheitspartner. D.h. sie wollen sich nicht erst um den versicherten Patienten kümmern, wenn ein Krankheitsfall da ist, sondern nach vorne zu einer proaktiven Kundenbeziehung. Sie helfen den Menschen gesund zu bleiben, Prophylaxe, Sport und Fitness-Angebote, ja sogar Vitality-Produkte werden angeboten. So schafft man sich eine ganz andere Interaktionsfläche, um mit Kunden im Kontakt zu bleiben und ein partnerschaftliches Serviceerlebnis zu bieten.
Wie macht man als Versicherung auf sich aufmerksam, wenn man nur noch eine Checkbox im Antragsformular ist?
Nehmen wir mal die Reiseversicherung zum Beispiel. Bucht heute eigentlich in der Regel nur jemand, der eine Reise tut. Also da ist der Anlass, ich buche eine Reise und dann brauch ich eine Versicherung. Und entweder mache ich das gleich auf dieser Seite, auf der ich die Reise buche oder ich mach‘s halt mit im Reisebüro – aber: welcher Versicherer dahintersteckt, ist dann beliebig. Da damit dem Versicherer der eigentliche „Kauf“-Touchpoint verloren geht, wird das Thema Loyalität umso wichtiger. Und ebenso das Thema Brandmanagement und Brandbuilding. Wenn man sich als anderes Beispiel Autoversicherungen anschaut – und ich klammere autonomes Fahren schon mal aus, denn dann bräuchte es keine Kfz-Haftpflicht mehr, sondern eine Produkthaftpflicht des Herstellers. Wenn Autos zukünftig nicht mehr gekauft, sondern geleast, geshared oder über eine monatliche Flatrate wie Spotify genutzt werden, wer schließt dann noch eine eigenständige Kfz-Versicherung ab? Wenn man in Plattform-Ökonomien denkt, oder in Ecosystemen, dann muss ich als Versicherer schon eine zentrale Rolle einnehmen, um meinen Kunden überhaupt noch managen zu können. Sonst ist man irgendwo nur noch ein White-Label-Lieferant, der ein günstiges Produkt zuschießt.
Welchen Einfluss hat die digitale Customer Journey auf die Loyalität?
Hat die digitale Customer Experience überhaupt einen positiven Effekt oder ist es doch nur das Produkt? Natürlich sind das Produkt und die Leistung ein Grundbaustein, aber kann ich meinen Kunden nicht schon vorher an die Hand nehmen und ihm helfen, dass ein Schaden vielleicht gar nicht erst eintritt? Und das kann ich natürlich sehr gut auf der in der digitalen Customer Journey umsetzen. Den größten Fehler, den die Unternehmer im Kontext Kundenloyalität machen können, ist:
„Loyalität mit 'der Kunde bleibt bei mir‘ zu verwechseln.“
Das haben der Stromanbieter lernen müssen, genauso wie die Telefongesellschaften, die im Zuge von Marktliberalisierungen ganz plötzlich ihrer bequemen Quasimonopolstellung beraubt waren und ganz ungewohnt auf ihre Kunden zugehen mussten.
Wo geht es in Zukunft hin und was muss man richtigmachen?
Seine Kunden und Partner dort abholen, wo sie sind. Loyalität, Treue und Zufriedenheit sind etwas Persönliches, da geht oft „One size fits all“ halt eben nicht. Und genau da ist die digitale Chance. Die neuen Technologien bieten Möglichkeiten, viel individueller, viel persönlicher auf die Bedürfnisse und Belange der Kunden und Partner einzugehen. Und das auch entsprechend umzusetzen – im Produktdesign und auch in der Customer Journey. Man muss mutiger werden, auch mal was ausprobieren. Ich werde oft gefragt, ob die Disruption noch kommt – sie ist ja bisher gefühlt ausgeblieben. Ich antworte dann gerne „das weiß ich auch nicht, aber ich glaube zu wissen: wenn eine Disruption kommt, dann kommt sie nicht aus unserer Branche, sondern daher, wo wir sie heute nicht vermuten“. Aber solange wir alle Versicherungen noch brauchen, ist eine stabile Kundenloyalität das Wichtigste, was einem Unternehmen mit weitgehend austauschbaren Produkten seine Geschäftsgrundlage sichert.
Disruption
"Eine disruptive Technologie (engl. disrupt – unterbrechen, zerreißen) ist eine Innovation, die eine bestehende Technologie, ein bestehendes Produkt oder eine bestehende Dienstleistung vollständig verdrängt", so Wikipedia. Aber natürlich geht es nicht nur um Technologie. Sondern auch um Verfahren, Denkweisen, Prozesse, Systeme und ganze Kulturen.
Google, Apple und Co. wirken nicht nur durch ihre Größe und ihre Technik bedrohlich, sondern auch aufgrund ihrer kulturellen Fremdheit: Lauter Nerds, die sich nicht mehr an geschäftliche Konventionen halten, sondern mit lockerer Miene Revolutionen verkünden und dabei verwaschene Jeans tragen. Ein großer Teil des Disruptions-Gerüchts bezieht sich auf solche Stil-Fragen: Wenn Mark Zuckerberg bei seinem Besuch in Berlin einen Teil der Honoratioren, die unbedingt ein Selfie mit ihm für ihre Facebook-Profile machen wollen, einfach stehen lässt, dann erzeugt das hochgradige Irritation. Solche Leute sind gefährlich und können nur im Sinn haben, die Weltherrschaft an sich zu reißen!
Vielleicht ist die Angst vor der Disruption zuallererst die Angst vor dem eigenen Deutungsverlust. Der traditionelle Banker etwa ist das Produkt einer fein abgestimmten Status-Hierarchie, in der Opportunismus und eine gewisse Selbstillusion unabdingbar sind. Die Angst vor den Fintechs ist vor allem die Angst vor dem Moment, in dem sich diese Selbstillusion aufzulösen beginnt. Und sichtbar wird, dass es in Sachen Geld nicht um Magie geht. Dass das Geld in Zukunft auch ohne die Zauberei des "Bankings" seine Wege zum Kunden finden wird. (Quelle: Wikipedia/Zukunftsinstitut Matthias Horx)